Big Thief wagen auf „Dragon New Warm Mountain I Believe in You“ den Ausbruch aus der Schwermut. Kann die Band eigentlich irgendwas falsch machen?
Um nachzuvollziehen, warum Big Thief in der Musikwelt derzeit alle Sympathien zufliegen, wie sie in wenigen Jahren zur Konsensband schlechthin werden konnten, hilft vielleicht eine Anekdote, die sich während der Aufnahme zum neuen Album zugetragen haben soll. Als sich die Indiefolker nach langen Monaten der pandemischen Isolation wieder finden wollten, zogen sie in eine Hütte im Wald. Nach einem Bad im Gebirgsbach als Initiationsritual setzten sie sich noch in nassen Badesachen an ihre Instrumente.
Dann zog ein Gewitter auf und der Strom fiel tagelang aus. Also schloss die Gruppe eine Vier-Spur-Kassettenmaschine an die Autobatterie eines Vans an. Rein akustisch, im flackernden Schein von Kerzen nahmen sie den Song „Certainty“ auf. Lediglich einen Bluetooth-Lautsprecher verwendeten sie als Bassverstärker. In dieser Fassung wurde das wohl schönste Lied der Platte als Single veröffentlicht. Ein bisschen wacklig, ein bisschen rauschig, aber so wundervoll geerdet und berührend.
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Für Musiker:innen ist es ein Horror, wenn der Studiotermin näherrückt und sie nicht genug Songs zusammen haben, um auf Albumlänge zu kommen. Dann wird mit schnell zusammengeworfenen Lückenfüllern, Snippets und Interludes Strecke gemacht. Zumal in Zeiten, wo alles über 30 Sekunden bei Spotify Geld abwirft. Dem steht die ausufernde Produktivität von Big Thief gegenüber. Erst 2016 veröffentlichten sie ihr Debüt „Masterpiece“, nun erscheint mit „Dragon New Warm Mountain I Believe in You“ bereits das fünfte Album – die drei Soloplatten von Sängerin Adrianne Lenker nicht mal eingerechnet. Und natürlich ist es ein Doppelalbum mit 20 Songs geworden, das wiederum nur eine Auswahl von ursprünglich 45 Liedern ist.
Wie der umständliche Titel von einer vermeintlichen Unentschlossenheit zeugt, so legte sich die Band auch bewusst nicht auf einen Aufnahmeort fest. Upstate New York, Topanga Canyon, Rocky Mountains und Tucson, Arizona. Vier Studios, vier Toningenieure, jede Session mit einem eigenen klanglichen Charakter. „Wie halten wir den Fokus während der Aufnahmen aufrecht und erlauben uns dennoch die Freiheit, Dutzende von Songs zu erkunden, ohne uns in diesem Prozess zu verlieren?“, umriss Drummer und Produzent James Krivchenia die herausfordernde Aufgabe.
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Das Ergebnis dürfte die gewachsene Fanbase von Big Thief das erste Mal auf die Probe stellen, vielleicht sogar spalten. Denn die Band verlässt mutiger denn je den schwermütigen Signaturesound der klanglich in sich geschlossenen Vorgängeralben. Folkige Texturen werden hier aufgerissen und mit diversen Einflüssen anderer Genres verwebt. Wie beim flüchtigen Blick durch ein Kaleidoskop, wirkt das beim ersten Durchhören noch ein bisschen beliebig – gibt die Gruppe doch freimütig zu, sich kaum Sorgen um den Gesamteindruck gemacht zu haben.
Zehrt „Change“ zu Beginn noch von den Melodien der flehend-flatterigen Stimme Lenkers, biegt bereits „Time Escaping“ in Richtung Trip-Hop ab. Elektronische Loops pluckern auch in „Heavy Bend“ krautig vor sich und erinnern an die Klangwelten eines Four Tet.
Mit „Spud Infinity“ setzt Big Thief dann den Hillbilly-Blinker. Eine Fiddle jault auf, die Maultrommel treibt vorwärts. Lenkers Stimme kippt beinahe ins Blue Yodeling. Die Pedal-Steel-Gitarre und der mehrstimmige Satzgesang in „Red Moon“ zeugen davon, dass Big Thief schon immer ihre Americana-Wurzeln pflegten.
Der experimentelle Kern der Platte sind die Songs mit der Handschrift des Toningenieurs Shawn Everett. Ihm ließ die Band freie Hand bei der klanglichen Bearbeitung. So jagte er Filter um Filter über „Little Things“ oder „Flower of Blood“. Zuweilen erzeugt das einen hypnotischen Sog, manchmal wird das tolle Songwriting aber von einem scheppernd-halligen Democharakter überlagert.
Besang Adrianne Lenker, die in einer christlich-fundamentalistischen Sekte aufwuchs, früher meist verletzlich-suchend die Dämonen der Vergangenheit, ist auf „Dragon New Warm Mountain I Believe in You“ textlich mehr Raum für Leichtigkeit und Humor. So verortet sie die Grenze der Selbstliebe bei den eigenen Ellenbogen – die kann man schließlich nicht küssen.
Das letzte Drittel gestaltet sich für Big-Thief-Ultras der ersten Stunde versöhnlich. Auf dem hymnischen „No Reason“ wird die spielerische Lässigkeit der Kernband von einer Querflöte versüßt. Die queeren Liebesballaden „12000 Lines“ und „The Only Place“ dürften auch jedes Heteroherz erwärmen. „What should we do now?“, fragt einer der Musiker in die ausklingenden Töne des gut gelaunten, letzten Songs „Blue Lightning“ hinein. Bitte einfach weiterspielen!
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