Auf dem 38. Kongress des Europäischen Komitees für die Behandlung und Erforschung der Multiplen Sklerose (European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis, ECTRIMS) informierten sich 9.000 Teilnehmer aus 100 Ländern über die neuesten Entwicklungen in Forschung und Pflege, wobei 1.700 Abstracts vorgestellt wurden.
An dieser Stelle kommentiert Professor Patrick Vermersch (Universität von Lille, Frankreich) ausgewählte Höhepunkte der Veranstaltung, die vom 26.–28. Oktober 2022 in Amsterdam in den Niederlanden stattfand. Weitere Neuigkeiten von der ECTRIMS 2022 finden Sie in der täglichen Berichterstattung von Neurodiem über die Veranstaltung.
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RIS: Behandeln oder nicht behandeln?
Eine der interessantesten Veranstaltungen auf der ECTRIMS 2022 war die „leidenschaftliche Debatte“ über das radiologisch isolierte Syndrom (RIS) – das auch das Thema einiger wichtiger neuer Forschungsarbeiten war, die auf der Konferenz vorgestellt wurden. Dazu gehörten auch die bahnbrechenden Ergebnisse der ARISE-Studie.
In der Debatte ging es um folgende Aussage: „Prä-symptomatische MS oder RIS sollten aktiv überwacht und behandelt werden.“ Prof. Christine Lebrun-Frenay (Nizza, Frankreich) sprach sich in dieser Frage für ein „Ja“ aus und wies auf das Risiko von MS nach RIS sowie das potenzielle Risiko einer schweren Behinderung in der Zukunft hin.
Sie erinnerte uns an die Risikofaktoren für die Entwicklung von MS: Alter < 37 Jahre, Vorhandensein von oligoklonalen Banden, T2-Läsionen in der Fossa cranii posterior oder Rückenmarksläsionen und Vorhandensein von Gadolinium-aufnehmenden Läsionen im MRT. Das Vorhandensein von 3 oder mehr dieser Risikofaktoren ist mit einem sehr hohen Risiko der Konversion zu MS assoziiert.
Prof. Lebrun-Frenay sagte, dass unabhängig von den Ergebnissen wichtiger RIS-Studien (wie ARISE und TERIS) Patienten mit mehreren Risikofaktoren aktiv überwacht und behandelt werden müssten.
Dr. Ide Smets (Rotterdam, Niederlande) sprach sich für ein „Nein“ aus, stimmte aber zu, dass alle MS-Patienten so schnell wie möglich behandelt werden müssen. Sie betonte, dass im Zusammenhang mit MRT-Läsionen die diagnostische Genauigkeit wichtig sei. Dr. Smets wies auch auf die Chancen und Vorteile des Nicht-Wissens hin, und darauf, dass etwa 50 % der RIS-Patienten innerhalb von 10 Jahren keine definitive MS entwickeln werden, auf die geringe Effektstärke krankheitsmodifizierender Behandlungen (Disease-Modifying Treatments, DMT) und auf die Kosteneffizienz bezüglich der Verwendung von Gesundheitsetats für RIS.
An anderer Stelle auf der ECTRIMS 2022 berichteten Lim und Kollegen (Toronto, Kanada) über die Ergebnisse ihrer prospektiven Studie an RIS-Patienten, in der mögliche nützliche Vorhersagefaktoren für die Entwicklung von MS untersucht wurden.
In einer Kohorte von 36 RIS-Patienten berücksichtigten sie zwei zusätzliche potenzielle Risikofaktoren in der anfänglichen MRT: paramagnetische Randsaumläsionen der weißen Substanz (Paramagnetic Rim Lesions, PRL) und zentrale Venenzeichenläsionen (Central Vein Sign Lesions, CVSL).
Die Studie (siehe Kasten) umfasste eine multivariate Analyse, die darauf hindeutet, dass Patienten mit einer höheren Anzahl von PRL ein erhöhtes Risiko für MS aufweisen.
RIS: Können PRL helfen, die Entwicklung von MS vorherzusagen?
Prospektive Studie mit 36 RIS-Patienten (medianes Alter 43 Jahre, 70 % Frauen), mediane Nachbeobachtungszeit 6,3 Jahre:
Die Forscher schlugen vor, dass PRL einen prognostischen Nutzen bei der Identifizierung von Menschen mit RIS haben könnten, die ein hohes Risiko für die Entwicklung von MS tragen.
Schließlich stellt das RIS die früheste nachweisbare präklinische Phase der MS dar, und wir wissen, dass eine sehr frühe Behandlung mit einem geringeren Risiko der Krankheitsprogression assoziiert ist. Der Nutzen von DMT in dieser frühen Phase ist jedoch noch nicht erwiesen.
Das hat sich geändert: Die ARISE-Studie war eine multizentrische, placebokontrollierte Doppelblindstudie bei RIS-Patienten, in der Dimethylfumarat (DMF) in einer Dosierung von 240 mg zweimal täglich mit Placebo über 96 Wochen verglichen wurde. Der primäre Endpunkt war die Zeit bis zur ersten klinischen Symptomatik, die einem demyelinisierenden Ereignis im ZNS zugeschrieben wurde.
Die Behandlung mit DMF führte im Vergleich zu Placebo zu einer Risikoreduktion von über 80 % hinsichtlich der Entwicklung eines ersten klinischen Ereignisses. DMF verringerte im Vergleich zu Placebo auch signifikant das Risiko neuer oder sich vergrößernder T2-Läsionen. Es wurde kein neues Signal hinsichtlich der Sicherheit von DMF festgestellt (siehe Kasten).
ARISE-Studie: Neue Erkenntnisse auf der ECTRIMS 2022
Damit wurde zum ersten Mal ein starker Nutzen einer DMT in der Frühphase einer zentralen demyelinisierenden Erkrankung nachgewiesen.
Eine frühzeitige Kontrolle des Krankheitsprozesses ist eine Voraussetzung für die Optimierung der Ergebnisse, und die Befunde der ARISE-Studie sprechen für ein aktives Management von Patienten mit RIS, zumindest von denjenigen, die mehrere Risikofaktoren aufweisen.
„Die Ergebnisse der ARISE-Studie sprechen für ein aktives Management von Patienten mit RIS, zumindest von denjenigen mit mehreren Risikofaktoren“
Prof. Patrick Vermersch
Biomarker: neu und alt
Es besteht ein dringender Bedarf an neuen Biomarkern. Die MRT ist zweifelsohne von grundlegender Bedeutung für die Diagnose. Sie kann für die routinemäßige Überwachung von Patienten und als Teil der therapeutischen Bewertung eingesetzt werden. Die MRT liefert jedoch hauptsächlich Daten zu Läsionen im Zusammenhang mit fokalen Entzündungen und bildet die kompartimentierte Entzündung sowie die neurodegenerative Komponente nur unzureichend ab.
Es ist nun möglich, eine Komponente der kompartimentierten Entzündung, die als PRL bezeichnet werden, mit Hilfe einiger Sequenzen wie der suszeptibilitätsgewichteten Bildgebung sichtbar zu machen. Diese PRL stehen im Zusammenhang mit der Aktivität der Mikroglia, und diese Läsionen werden jetzt als chronisch aktiv eingestuft.
Eine bemerkenswerte Studie wurde von Colombi und Kollegen (Verona, Italien) vorgestellt. Ziel der Gruppe war es, Proteine im Liquor von 85 Patienten mit schubförmig remittierender MS, die bei der Diagnose untersucht wurden, mit dem Vorhandensein und der Anzahl von PRL in der MRT zu korrelieren.
Sie fanden heraus, dass 4 Marker stark mit dem Vorhandensein von mindestens 3 PRL korreliert waren:
Diese Ergebnisse unterstreichen die Rolle der angeborenen Immunität und vor allem der Mikroglia bei chronisch aktiven Läsionen, die für das Fortschreiten der Behinderung entscheidend sind.
„Diese Ergebnisse unterstreichen die Rolle der angeborenen Immunität und insbesondere der Mikroglia bei chronisch aktiven Läsionen“
Prof. Patrick Vermersch
Neurofilament-Leichtketten (NF-L) sind ein bekannter Biomarker für die Krankheitsaktivität von MS. Eine wichtige neue Analyse von Abdelhak und Kollegen (San Francisco, USA), über die auf der ECTRIMS berichtet wurde, deutet darauf hin, dass NF-L-Spitzen im Serum etwa ein Jahr vor den klinischen Anzeichen einer Verschlechterung der MS-Krankheit auftreten. Diese Spitzen sind aber nur in der Gruppe der Patienten mit Anzeichen einer fokalen Entzündungsaktivität, entweder klinisch oder durch Bildgebung, nachweisbar.
Die Forscher sagten: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen NF-L-Spiegeln und einer Verschlechterung des Werts auf der EDSS [Expanded Disability Status Scale (erweiterte Skala zur Einstufung einer Behinderung)] vor allem im Zusammenhang mit einem Schub auftritt.
„Die Erforschung zusätzlicher Biomarker mit höherer Sensitivität zur Quantifizierung der mit einem Schub verbundenen Aktivität (Progression Associated with Relapse Activity, PIRA) ist erforderlich.“
Es besteht also eine gewisse Skepsis hinsichtlich der genauen Rolle der NF-L bei der Überwachung des Fortschreitens der Behinderung. Im Gegensatz dazu wird das saure Glia-Fibrillenprotein (Glial Fibrillary Acidic Protein, GFAP) im Serum derzeit als vielversprechenderer Biomarker für das Fortschreiten der Behinderung angesehen. In einer prospektiven Kohorte analysierten Meier und Kollegen (Basel, Schweiz) drei Patientengruppen: eine sehr stabile, eine mit einer schnellen und schweren EDSS-Progression und die letzte mit unterschiedlichen Patienten: einige mit mindestens einem kürzlichen Schub oder einer kürzlichen MRT-Aktivität und andere ohne klinische und MRT-Aktivität in den letzten 12 Monaten.
„Es scheint, dass diese beiden Biomarker [NF-L und GFAP] komplementäre Informationen liefern können“
Prof. Patrick Vermersch
Sie fanden heraus, dass die NF-L-Werte mit der Entzündungsaktivität und die GFAP-Werte stärker mit dem Fortschreiten des EDSS-Werts zusammenhingen.
Interessanterweise korrelierten die Baseline-Werte von NF-L und GFAP mit der Atrophie der weißen Substanz bzw. der Atrophie der grauen Substanz. Es scheint, dass diese beiden Biomarker komplementäre Informationen liefern können. Ihr Einsatz in der Routinepraxis ist jedoch noch nicht geklärt.
Andere Biomarker wie Serpine3 und Chitinase 3L1, die im Liquor von Patienten mit primär progredienter MS signifikant erhöht sind (Fissolo und Kollegen; Barcelona, Spanien), treten in den Vordergrund. Die Geschichte ist noch nicht vorbei…
Therapeutika bei MS
MS kann für das sich entwickelnde Gehirn sehr schädlich sein, sodass eine frühzeitige Kontrolle der Krankheit in der pädiatrischen Bevölkerung oberste Priorität hat. In der PARADIGMS-Studie zeigte Fingolimod in der ersten zweijährigen Kernphase eine überlegene Wirksamkeit gegenüber Interferon (IFN) beta-1a. Auf der ECTRIMS wurden die Ergebnisse der laufenden Langzeitverlängerung von Deiva und Kollegen (Paris, Frankreich) vorgestellt.
In der neuen Analyse untersuchten sie die langfristige Wirksamkeit und Sicherheit von Fingolimod bei Patienten, die in der Kern- und/oder Verlängerungsphase bis zu sechs Jahre lang behandelt wurden. Das Forscherteam berichtete, dass bei Patienten, die von Beginn der Studie an mit Fingolimod behandelt wurden, die annualisierte Rezidivrate (Annualized Relapse Rate, ARR) sehr niedrig blieb (0,11).
Bei Patienten, die in der Hauptphase IFN beta-1a erhielten, konnte die ARR nach der Umstellung auf Fingolimod in der Verlängerungsphase deutlich gesenkt werden (von 0,61 auf 0,22). Die MRT-Daten bestätigten diese Ergebnisse und es wurden keine neuen Sicherheitssignale festgestellt.
„Die frühzeitige Kontrolle der Krankheit hat in der pädiatrischen Bevölkerung höchste Priorität“
Prof. Patrick Vermersch
Für die meisten MS-Spezialisten ist Fingolimod heute der Behandlungsstandard bei Kindern. Derzeit gibt es keinen Konsens über den Stellenwert der autologen hämatopoetischen Stammzellentransplantation (aHSZT) im Therapiealgorithmus für Erwachsene mit MS. Um hierüber neue Erkenntnisse zu gewinnen, berichteten Mavromati und Kollegen (Stockholm, Schweden) über die Ergebnisse einer retrospektiven Studie an 39 Patienten mit schubförmig remittierender MS, die sich am Karolinska-Institut einer aHSCT unterzogen.
Das Durchschnittsalter der Patienten lag bei 36 Jahren (Bereich 21–52 Jahre). Alle erhielten zuvor eine fehlgeschlagene DMT und wurden seit durchschnittlich 5 Jahren mit einer DMT behandelt. Die mediane Nachbeobachtungszeit der Studie betrug 6,4 Jahre.
Der durchschnittliche Krankenhausaufenthalt für die aHSZT betrug 25 Tage, während derer die Mehrheit neutropenisches Fieber (das erfolgreich mit Antibiotika behandelt wurde) und 26 % eine vorübergehende Reaktivierung des Herpesvirus erlitten. Vier Patienten entwickelten sekundäre Autoimmunitäten.
Die Wissenschaftler berichteten darüber hinaus, dass:
Ähnlich positive Ergebnisse wurden von Mancardi und Kollegen (Genua, Italien) berichtet. Sie wiesen darauf hin, dass die aHSZT wirksamer als andere DMT ist, um ein Fortschreiten der Behinderung nach einer medianen Nachbeobachtungszeit von 5 Jahren zu verhindern.
Diese Studien belegen, dass die aHSZT eine wirksame Behandlung ist, um das Fortschreiten der Krankheit bei schubförmig remmittierender MS aufzuhalten. Eine Studie von Kalincik und Kollegen (Melbourne, Australien) schränkt diese Schlussfolgerungen jedoch etwas ein.
Wie erwartet, erwies sich die aHSZT als äußerst wirksam bei der Verringerung der Schubrate (Relapse Rate, RR) und des Risikos eines Fortschreitens der Behinderung. Die Forscher verglichen die aHSZT mit Fingolimod, Natalizumab (NTZ) und Ocrelizumab (OCRE) nach 2 und 5 Jahren. Sie berichteten, dass die aHSZT gegenüber Fingolimod in Bezug auf die RR überlegen war, die Ergebnisse für das Fortschreiten der Behinderung aber nicht signifikant waren (p = 0,09).
Auch hier war die RR für die aHSZT im Vergleich zu NTZ niedriger, ohne dass es einen Unterschied beim Risiko des Fortschreitens der Behinderung gab. Dahingegen war aHSZT gegenüber OCRE weder bei der RR noch beim Fortschreiten der Behinderung überlegen.
„Wir brauchen mehr direkte und prospektive Vergleiche, um diese dreistufige Rakete zu validieren“
Prof. Patrick Vermersch
Dasselbe Team verglich in einer separaten Analyse die aHSZT auch mit anderen Behandlungen. Diese Studie ergab keine Evidenz für eine Überlegenheit der aHSZT bei der Verringerung des Risikos von Schüben oder der Verschlechterung der Behinderung im Vergleich zu Alemtuzumab, Cladribin und Mitoxantron. Die Studie ist durch die geringe Größe der Vergleichsgruppe und die kurze Nachbeobachtungszeit nach der Behandlung begrenzt. Unter den 159 mit aHSZT behandelten Patienten kam es zu einem einzigen Todesfall.
Im Zeitalter neuer hochwirksamer Therapien muss der Stellenwert der aHSZT im Behandlungsalgorithmus noch geklärt werden.
Abschließend zu diesen Highlights gab es interessante Diskussionen in einer Hot-Topic-Sitzung über das Thema „Die Pyramide auf den Kopf stellen“ – jetzt ein Konsens für Patienten mit negativen prognostischen Faktoren.
Eine Sichtweise besteht darin, drei Klassen von Medikamenten zu betrachten und nicht zwei, wie sonst üblich: die Gruppe mit geringer bis mäßiger Wirksamkeit, die hochwirksame Gruppe mit den S1P-Modulatoren und Cladribin und die sehr hochwirksame Gruppe mit Natalizumab und den Anti-CD20 monoklonalen Antikörpern. Wir brauchen jedoch mehr direkte und vorausschauende Vergleiche, um diese dreistufige Rakete zu validieren.
Weitere Einzelheiten zu neuen Forschungsergebnissen, die auf der ECTRIMS 2022 vorgestellt wurden, finden Sie in den täglichen Berichten von der Veranstaltung auf der Neurodiem-Website.
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