Um klimaneutral produzieren zu können, müssen die Hersteller ihre Anlagen teilweise erneuern.
Um klimaneutral produzieren zu können, müssen die Hersteller ihre Anlagen teilweise erneuern.
Düsseldorf Bei seiner letzten Bilanzpressekonferenz als Chef des Duisburger Stahlhändlers Klöckner & Co. hatte Gisbert Rühl am Mittwoch erfreuliche Nachrichten zu vermelden. In nahezu allen Bereichen, die KlöCo mit seinen Stahlprodukten beliefert, ist der Ausblick positiv. Mit einem Rückgang der Nachfrage rechnet der Manager im Jahr 2021 nur für den Schiffbau in Europa. Fast alle anderen Segmente – Bau, Maschinenbau, Auto – konnte Rühl in seiner Präsentation mit nach oben gerichteten Pfeilen bebildern.
Keine Frage: Nach dem dramatischen Einbruch infolge der Pandemie erlebt die globale Stahlindustrie derzeit eine Sonderkonjunktur. Der Preis für den in vielen Branchen benötigten Werkstoff ist seit Ende des vergangenen Jahres von gut 400 Euro auf mehr als 700 Euro je Tonne warmgewalzten Stahls geklettert. Teilweise klagen Abnehmer über ausbleibende Lieferungen.
Und ein Ende der Rally ist nicht in Sicht: Auch im zweiten Halbjahr blieben die Preise stabil, so Rühls Prognose. Für die leidgeplagten Stahlhersteller ist das ein Lichtblick, nachdem in der Coronakrise viele Milliarden verloren gegangen waren.
Doch verdeckt der dramatische Preisanstieg in den vergangenen Wochen die strukturellen Probleme der Branche. „Die aktuell hohen Stahlpreise sind eine Folge von Nachholeffekten: Die Abnehmer füllen ihre Lager wieder auf, dadurch gibt es eine Spitze in der Nachfrage“, erklärt Nicole Voigt, Stahlexpertin und Partnerin bei der Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG). „Strukturell hat sich am Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage aber nichts geändert: Es bestehen weiterhin hohe Überkapazitäten, die abgebaut werden müssen.“
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Es ist ein Thema, das auch die Gäste bei der Handelsblatt-Jahrestagung „Zukunft Stahl“ beschäftigen wird, an der neben Rühl auch zahlreiche andere Manager aus der Branche teilnehmen werden. Dabei stehen die Unternehmen alle vor den gleichen Problemen: Weltweit werden rund 700 Millionen Tonnen Stahl mehr produziert, als der Markt verbrauchen kann, so eine Schätzung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OSZE). Bei einer Gesamtkapazität von rund 2,5 Milliarden Tonnen ist das ein Überhang von fast 30 Prozent.
Der größte Anteil an der Weltproduktion entfällt dabei auf China. Mit einer Produktionsmenge von mehr als 900 Millionen Tonnen Rohstahl führt die Volksrepublik die Liste der größten Stahlproduzenten der Welt mit großem Abstand an. Auf Platz zwei folgt Indien, das lediglich ein gutes Zehntel dieser Menge produziert. Dem gegenüber stehen die deutschen Hersteller, die jährlich rund 40 Millionen Tonnen Rohstahl produzieren.
Seit Jahrzehnten schon reagieren die europäischen Unternehmen auf den zunehmenden Druck aus dem Ausland, darunter insbesondere China, Russland und der Türkei, mit immer größeren Fusionen. Zuletzt allerdings war die Neuordnung der Branche heftig ins Stocken geraten, nachdem mehrere geplante Zusammenschlüsse zwischen den größten Produzenten in Europa aus verschiedenen Gründen nicht zustande gekommen waren.
2019 untersagte die EU-Wettbewerbskommission etwa die Fusion von Tata Steel Europe und der Stahlsparte von Thyssen-Krupp. Anfang des Jahres platzten dann die Gespräche zwischen dem schwedischen Hersteller SSAB und Tata über eine Übernahme der niederländischen Stahlwerke, weil den Schweden das finanzielle Risiko zu groß erschien.
Und auch die Verhandlungen zwischen Thyssen-Krupp und Liberty Steel scheiterten am Ende an unterschiedlichen Vorstellungen – was dem Ruhrkonzern nun gelegen kommen dürfte, nachdem sich um Liberty-Chef Sanjeev Gupta und dessen Finanzier, Greensill Capital, zuletzt ein milliardenschwerer Finanzskandal entwickelt hat.
Einen Ausweg aus ihrer Misere suchen die Stahlhersteller in der klimaneutralen Produktion: Bis 2050, so sehen es die Klimaregeln der Europäischen Union vor, soll die gesamte Wirtschaft ohne den Ausstoß von CO2 funktionieren. Den Stahlherstellern kommt dabei eine besondere Rolle zu: Weil bei der Produktion von einer Tonne Stahl rund 1,7 Tonnen CO2 erzeugt werden, gehört die Branche zu den größten Emittenten in der Industrie.
Gleichzeitig stehen die notwendigen Technologien für einen Umstieg schon bereit. Was noch fehlt, sind milliardenschwere Investitionen in neue Anlagen, die aber die finanziellen Möglichkeiten der Unternehmen deutlich übersteigen.
So rechnet etwa die Wirtschaftsvereinigung Stahl (WV Stahl) mit Investitionen von rund 30 Milliarden Euro, um die gesamte deutsche Stahlproduktion zu dekarbonisieren. Dabei sind allerdings noch keine Mehrkosten im laufenden Betrieb berücksichtigt, die etwa durch den Wechsel von Kohle zu klimaneutral produziertem Wasserstoff entstehen werden.
„Wir rechnen durch den Umstieg auf klimaneutrale Produktionsverfahren mit Mehrkosten von bis zu 300 Euro je Tonne Stahl, wenn man die Betriebs- und Investitionskosten betrachtet“, erklärt BCG-Stahlexpertin Voigt. „Diese Mehrkosten müssen von allen Teilnehmern in der Wertschöpfungskette getragen werden – von den Stahlunternehmen selbst über Abnehmer wie die Autoindustrie bis zum Endkunden.“
Eine offene Frage ist dabei auch die Versorgung mit sogenanntem „grünem“ Wasserstoff, der mittels erneuerbarer Energie aus der Elektrolyse von Wasser gewonnen werden kann. Bislang sind weltweit nur wenige Anlagen in Betrieb, in denen das möglich ist.
Doch die Nachfrage nach Elektrolyseuren steigt immens: So will die Stadt Hamburg einen der weltweit größten Elektrolyseure im Hafengebiet errichten. Bereits 2025 könnte die Produktion mit einer Windkraftleistung von 100 Megawatt anlaufen. Ähnliche Projekte gibt es auch in Saudi-Arabien oder Kanada, die über große Mengen erneuerbarer Sonnen- beziehungsweise Wasserkraft verfügen.
Für die Stahlindustrie wird die verfügbare Menge grünen Stroms in Europa damit zur Existenzfrage. Denn der Bedarf, den ein mit Wasserstoff produzierendes Stahlwerk benötigt, ist immens. Allein für die deutsche Stahlindustrie rechnet die IG Metall mit einem Mehrbedarf von 12.000 Windrädern mit einer Leistung von fünf Megawatt, um ausreichend grünen Wasserstoff zu produzieren.
Die Zahlen zeigen: Allein der Aufbau der benötigten Infrastruktur dauert Jahre, bevor tatsächlich alle deutschen Stahlwerke auf grüne Produktionsverfahren umgestellt werden können. Gleichzeitig steigen die Kosten für CO2-Zertifikate, die die Unternehmen teilweise zukaufen müssen, um die Emissionen in ihrer konventionellen Produktion auszugleichen. Dabei sind viele Hersteller in Sorge, dass dieses Geld am Ende fehlen könnte, um den Aufbau einer klimaneutralen Produktion zu finanzieren.
Um dem Problem zu begegnen, schlägt BCG-Expertin Voigt eine leicht abgewandelte Definition für grünen Stahl vor: Dabei werden schrittweise CO2-Einsparungen im gesamten Prozess auf eine Menge „grünen Stahläquivalents“ umgerechnet, der dann als „grüner Stahl“ verkauft werden kann.
Der Vorteil für die Unternehmen: Schon vor dem Aufbau einer komplett klimaneutralen Produktion könnten sie grünen Stahl in kleineren Mengen anbieten. „Das gibt Unternehmen die nötige Flexibilität, früh in den Markt zu starten und die Reaktionen auszutesten.“
Mehr: Das Rennen um den grünen Stahl: Die Branche steht vor einer Revolution
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Stahl war immer zyklisch, mit Zyklen von 5 -10 Jahren. Strukturelle Probleme haben wir uns selbst zuzuschreiben. Erst zeigen wir der ganzen Welt wie man Stahl herstellt und dann wundern wir uns wenn plötzlich ein Überangebot da ist. Das Überangebot beschränkt sich allerdings auf einige geringerwertige Stahlsorten. Deutsche Standorte können dauerhaft nur noch mit Qualitätsstählen punkten. Eine CO 2 freie Stahlproduktion wird es nie geben denn Kohlenstoff gehört zur Stahlerzeugung wie Sauerstoff zum Atmen. Ich war über 50 Jahre in der Stahlindustrie tätig und da ist es wie bei den Bauern: Jammern gehört zum Handwerk.
Noch eine Anmerkung: Wo Boston Consulting tätig war ging es nach meiner Erfahrung anschließend immer bergab mit der Firma.