Horse Diving: “Wir sanken tiefer, tiefer, tiefer”
Im roten Badeanzug saß die junge Frau, mit Football-Helm auf dem Kopf, auf einem zwölf Meter hohen Turm. Ein Wink ihrer Hand, Hufgetrappel, ein Pferd stieg die Laufbahn hinauf. Grau gesprenkelt, weiße Mähne.
Elegant schwang sich die Frau auf den Pferderücken, sonnte sich in der Bewunderung der Zuschauer. Am Ende des Podests beugte sich das Pferd immer weiter hinunter. Ein Stoß mit den Hinterbeinen – hinab sausten Ross und Reiterin. Die Schaulustigen hielten den Atem an. Platsch, das Duo krachte in ein Wasserbecken. Nach Sekunden durchbrach erst der Kopf des Pferdes die Wasseroberfläche, dann tauchte die Reiterin auf. Die Menge jubelte.
Eine junge Frau namens Sonora Webster war besonders begeistert von dieser skurrilen Vorführung im Sommer 1923 in Savannah im US-Bundesstaat Georgia. “Würdest du dich das trauen?”, fragte sie ihren Freund. Er antwortete: “Hältst du mich für wahnsinnig?”
Sonora Webster war irre genug. Ein paar Tage zuvor hatte sie in der Lobby des Hotels Savannah gestanden, in der Hand eine Zeitungsanzeige:
“Gesucht: Attraktive, junge Frau, die schwimmen und tauchen kann. Sollte Pferde lieben und Sehnsucht nach Reisen haben.”
Die Anzeige aufgegeben hatte William Frank Carver, kurz “Doc” genannt. Der Scharfschütze und Büffeljäger hatte sich, genau wie Buffalo Bill, mit Wild-West-Shows in Europa einen Namen gemacht. Endgültig berühmt werden sollte der “Doc” mit seinen “Diving Horses” und suchte dafür eine weitere Reiterin.
Sonora Webster war völlig vernarrt in die Vierbeiner. In ihrer Autobiografie “A Girl and Five Brave Horses”, 1961 erschienen, schrieb sie: “Als ich fünf Jahre alt war, habe ich versucht, meinen Bruder gegen ein Pferd einzutauschen.” Auf dem Schulweg bewunderte sie täglich Pferde, die auf einer Weide grasten.
Die Pfunde mussten runter
Als Zwanzigjährige schloss Webster sich “Doc” Carvers umherreisender Truppe an und sollte 50 Dollar die Woche bekommen. So viel Geld hatte sie, zuvor Buchverkäuferin, noch nie verdient.
Die “Diving Horses” hatte Carver 1894 zum ersten Mal vorgeführt, selbst seine eigene Tochter Lorena stürzte sich in die Tiefe. Wie der Showdirektor auf die absurde Idee kam, ist unbekannt. Als gewiefter Erzähler erfand Carver zahlreiche Geschichten: Einmal sei eine Brücke unter ihm zusammengebrochen und er samt Ross im Wasser gelandet, ein anderes Mal auf der Flucht vor Diebesgesindel in einen Fluss gestürzt.
Horse Diving: “Wir sanken tiefer, tiefer, tiefer”
Für Sonora Webster stand zunächst hartes Training an. Als strenger Chef bestand der “Doc” darauf, dass jede seiner Springerinnen und Springer geübt und in tadelloser Verfassung war. 1907 war ein junger Mann bei einem Sprung umgekommen.
Seinem neuen Star verordnete Carver eine Schlankheitskur. Um abzunehmen, drehte Webster stundenlang Runden durch den Wassertank. Ihre Reitstunden begann sie auf dem ältesten – und lebhaftestem – Pferd der Truppe: Auf Klatawah raste die junge Frau ohne Sattel und Zaumzeug in sengender Hitze über den Übungsplatz und fühlte sich danach “benommen und schwindlig”. Als sie sich ausruhen wollte, fragte Carver: “Wo gehst du hin, Sonora? Du musst noch drei andere Pferde trainieren!”
“Ich hörte das Wasser um uns herum gurgeln”
Mit zerschundener Haut, übersät von blauen Flecken, konnte sich Webster kaum bewegen. Doch bald sprang sie auf Klatawah vom Turm, hinein in ein nicht mal vier Meter tiefes Becken. “Ich hörte das Wasser um uns herum gurgeln und blubbern”, beschrieb sie ihren ersten Sprung. “Wir sanken tiefer, tiefer, tiefer. Ich spürte, wie seine Hufe den Grund erreichten.” Ein starker Tritt des Pferdes, und beide erreichten unversehrt die Oberfläche. Test bestanden.
Wenig später absolvierte Webster ihren ersten Sprung vor Publikum, dann bis zu sechsmal täglich, als die Show-Truppe durchs Land tingelte. Auch ihre Schwester Arnette hatte mit 15 Jahren ihren ersten Sprung gewagt und wurde später Teil von Carvers Team. Der “New York Times” sagte Arnette Webster, es gebe “wirklich nicht viel zu tun, außer sich festzuhalten. Den Rest macht das Pferd”.
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Eine Regel war überlebenswichtig: Die Reiterinnen mussten ihren eigenen Kopf rechts oder links neben dem des Pferdes halten – denn im Sprung riss das Pferd den Kopf nach hinten. Es war der “größte Spaß, den du haben kannst”, beschrieb Arnette Webster das “Horse Diving”.
Unter den skurrilen Jahrmarktsattraktionen war diese Vorführung besonders tollkühn – und endete mitunter tödlich. So ertrank die Stute Duchess of Lightning beim Versuch, Pferde auch ins Meer springen zu lassen. Carver setzte seine Tiere, die er sonst umsorgte, diesem Risiko aus. “Überall, wo wir hinkamen, schnüffelten Tierschützer herum”, empörte sich Arnette Webster. “Immer versuchten sie herauszufinden, ob wir grausam zu den Pferden gewesen wären. Nie haben sie etwas entdeckt.”
Nächste Gaudi nach boxenden Kängurus und dressierten Bären
Das ganzjährige Wanderleben der “Great Carver Show” sollte 1929 ein Ende finden. Albert “Al” Carver leitete das Unternehmen seit dem Tod seines Vaters zwei Jahre zuvor und handelte einen Vertrag aus: Fortan traten Sonora und ihre Kolleginnen auf dem Steel Pier in Atlantic City auf, auf der riesigen Seebrücke eines gut besuchten Freizeitparks. Der Pferdewassersprung war die nächste Gaudi nach boxenden Kängurus, dressierten Bären und menschlichen Kanonenkugeln.
Die Reiterinnen verhüllten sich nicht länger mit altmodischen Ganzkörperanzügen. Sonoras neues Lieblingspferd Red Lips, spielte eine besondere Rolle: Zu Beginn jedes Auftritts riss dieser Wildfang seiner Herrin mit dem Maul die Kleider herunter – ein gewagterer Badeanzug kam zum Vorschein.
Unzählige Sprünge hatte Webster, mittlerweile mit Al Carver verheiratet, ohne größere Blessuren überstanden. Bis zum 14. Juli 1931. Red Lips wirkte verwirrt, unsicher, mit welchem Bein er vorangehen sollte. Dann stürzte der Hengst ins Wasser – und Sonora prallte mit geöffneten Augen auf die Wasseroberfläche.
“Das war hart, oder?”, sorgte sich Al Carver. Den Rat, zum Arzt zu gehen, ignorierte seine Frau. Bis die Schmerzen immer schlimmer wurden und ihre Sicht schwand. Websters Netzhäute waren durch den Aufprall irreparabel beschädigt, diagnostizierten Mediziner später. Sie blieb für immer blind.
Blind in die Tiefe
Dennoch sprang Sonora Webster bereits in der nächsten Saison weiter auf Pferden vom Turm, noch fast zehn Jahre lang. Dass sie blind war, ahnte niemand – bis sie es einem Journalisten gestand.
Im Zweiten Weltkrieg wurden die “Diving Horses”-Shows unterbrochen und erst Jahre später wiederaufgenommen – ohne Sprünge von Sonora Webster. Das Ehepaar Carver zog sich aus dem Geschäft zurück. Sonora engagierte sich bei einer Hilfsorganisation für Blinde; Disney verfilmte ihr Leben 1991 (“Wild Hearts Can’t Be Broken”). Zwölf Jahre später starb Sonora Webster mit 99 Jahren.
Noch bis in die Siebzigerjahre hatten sich Reiter auf dem zunehmend verfallenden Steel Pier auf Pferden in die Tiefe gestürzt. Dann war Schluss, bis auf ein kurzes Intermezzo 1993, als Pferde ohne Reiter sprangen. Knapp 20 Jahre später versuchte der Betreiber des Freizeitparks ein letztes Mal, diese bizarren Unterhaltung wiederzubeleben. Tierschützer protestierten – mit Erfolg.
Wayne Pacelle, Präsident der Humane Society of the United States, beurteilte “Horse Diving” ganz anders als die Webster-Schwestern. Diese “kolossal blöde Idee” könne Pferde verängstigen, verletzen und töten, sagte der Tierschützer der Nachrichtenagentur Reuters. Horse Diving dürfe nie wieder praktiziert werden – “es gehört zu Recht in die Geschichtsbücher von Atlantic City”.
Tiefflug: Eine neue Attraktion begeisterte gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Besucher amerikanischer Jahrmärkte. Junge Frauen – und ein paar Männer – stürzten sich auf Pferderücken von hohen Türmen in Wasserbecken.
Pferdefreundin: Eine der bekanntesten Springerinnen war Sonora Webster. 1923 sah die damals Zwanzigjährige in Savannah den Stunt und wurde bald Mitglied der “Great Carver Show”, die mit der Nummer schon seit Jahrzehnten durch die Lande zog.
Platsch! Das Becken, in dem Pferd und Reiter landeten, war knapp vier Meter tief. In vielen Versuchen war dieser Wert ermittelt worden, damit das Pferd rechtzeitig Boden unter die Hufe bekam und sich wieder Richtung Oberfläche abstoßen konnte. Diese Aufnahme entstand Mitte der Fünfzigerjahre.
Zentaure: Als “großen Spaß” bezeichnete Arnette Webster, Sonoras Schwester, das Turmspringen vom Pferd. Als Fünfzehnjährige war sie zum ersten Mal gesprungen. Dieser Sprung fand in den Vierzigerjahren statt.
Attraktion: Die “Diving Horses” erfreuten sich großer Beliebtheit, sodass auch andere Freizeitparks – wie hier im kanadischen Toronto Anfang des 20. Jahrhunderts – Pferde von Türmen springen ließen. Dieser Schimmel war allerdings ohne Reiter unterwegs.
Eiserne Regel: Eine Vorsichtsmaßnahme musste jede Springerin beherzigen. Der eigene Kopf musste sich beim Stunt seitlich des Pferdekopfs befinden. Denn die Tiere rissen den Kopf nach hinten, bei einem Zusammenprall drohten schwere Verletzungen. Bei Reiterinnen, wie bei dieser unbekannten Dame, legten die Veranstalter großen Wert auf Attraktivität.
Massenveranstaltung: 1929, zwei Jahre nach “Doc” Carvers Tod, etablierte sein Sohn Albert “Al” Carver die “Diving Horses” auf dem Steel Peer, einer Seebrücke des berühmten Freizeitparks in Atlantic City. Im Juli 1931 erlitt Sonora Webster, die inzwischen mit Al Carver verheiratet war, einen schweren Unfall. Sie prallte mit geöffneten Augen auf die Wasseroberfläche und verletzte dabei ihre Netzhäute schwer. Webster blieb für immer blind (Aufnahme aus Atlantic City im Jahr 1969).
Willenskraft: Trotz ihre Blindheit sollte Sonora Webster noch gut ein Jahrzehnt weiter in Atlantic City auf Pferden in die winzigen Pools springen. Erst der Zweite Weltkrieg unterbrach das “Horse Diving”, später wurde es wieder aufgenommen. Webster und ihr Mann kehrten allerdings nicht wieder ins Showgeschäft zurück. Sie arbeitete später für eine Blindenhilfsorganisation und starb 2003 im Alter von 99 Jahren. 1991 hatte Disney ihr Leben in “Wild Hearts Can’t Be Broken” verfilmt.
Protest: Bis in die Siebzigerjahre waren Pferde und Reiter auf dem Steel Pier zu sehen, dann beendeten Proteste von Tierschützern das Spektakel. Anfang der Neunzigerjahre (Foto) unternahmen die Betreiber einen neuen Versuch, diesmal sollten sich die Pferde allein in die Tiefe stürzen. Wiederum schritten Tierschützer erfolgreich ein. 2012 wurde ein letztes Mal versucht, die Tradition des “Horse Diving” wiederzubeleben – abermals ohne Erfolg.
Absprung: Zwölf Meter oder höher waren die Türme, von denen die Pferde mit ihren Reiterinnen absprangen. Nach einem harten Training und einer Abnehmkur durfte auch Sonora Webster das erste Mal auf einem Pferd vom Turm springen. Jahrelang sollte sie das bis zu sechsmal täglich vollführen. Das Foto mit unbekanntem Reiter ist undatiert.
Risiko: Wie die Carvers immer wieder beteuern mussten, sorgten sie gut für die Pferde. Kein Wunder, schließlich waren sie das Kapital der Show. Trotzdem kam es zu Zwischenfällen in der Geschichte der “Diving Horses”. So ertrank Sonora Websters Pferd Duchess of Lightning, als die Pferde bei einer Probe ins offene Meer sprangen.
Lehrstunde: Die Vierbeiner mussten speziell für die Nummer trainiert werden, um ihre natürliche Scheu vor dem Sprung abzulegen. Dieses Pferd wurde mit einer Karotte zum Sprung aus einer niedrigen Höhe verlockt (undatierte Aufnahme).
Höhenzug: Über eine Rampe gelangten die Pferde auf den Turm, wo sie die Reiterinnen erwarteten (undatiertes Foto).
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