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Von: Frédéric Simon | EURACTIV.com
29-03-2021
Luftaufnahme des Stahlwerks von Thyssenkrupp Steel in Duisburg. Der Standort plant die Umstellung auf grünen Wasserstoff für die Stahlproduktion. [© thyssenkrupp Steel Europe]
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Die Europäische Kommission hat klargestellt, dass Industrien, die von der angedachten CO2-Grenzabgabe der EU betroffen sind, nicht länger kostenlose CO2-Zertifikate im Rahmen des CO2-Marktes der Union (dem Emissionshandelssystem ETS) erhalten werden. Dies sei unter anderem nicht mit den WTO-Handelsregeln vereinbar.
Für die Umsetzung des sogenannten Grenzausgleichsmechanismus, mit dem eine CO2-Abgabe auf importierte Waren erhoben werden soll, „werden aktuell mehrere Optionen in Betracht gezogen“, sagte Mette Koefoed Quinn, eine leitende Beamtin in der Klimadirektion der Kommission. Keine dieser Optionen beinhalte jedoch kostenlose CO2-Zertifikate für Industrien, die unter die neue Grenzgebühr fallen würden.
Dies dürfte insbesondere für Energieerzeugung, Zement, Aluminium oder Düngemittel und vor allem auch für die Stahlproduktion interessant bis kritisch werden.
„Von Seiten der Kommission wurde klar gesagt: Wir denken nicht, dass die beiden Instrumente [CO2-Abgabe für Drittstaaten und kostenlose Zertifikate für EU-Unternehmen] gleichzeitig kompatibel sind. Denn dies wäre eine Doppelfinanzierung und nicht WTO-kompatibel,“ präzisierte Koefoed Quinn bei einer EURACTIV-Veranstaltung am vergangenen Dienstag (23. März).
Die EU-Kommission plant, die kostenlos vergebenen Zertifikate, die umweltverschmutzenden Industrien im Rahmen des EU-Emissionshandelssystems (ETS) zugeteilt werden, künftig abzuschaffen, damit das System mit der geplanten CO2-Grenzsteuer vereinbar gemacht werden kann.
Die CO2-Grenzabgabe der EU zielt vor allem darauf ab, das Risiko von „Carbon Leakage“ anzugehen. So wird der Vorgang bezeichnet, wenn Industriezweige mit hohen Treibhausgasemissionen ihre Produktion in Länder mit einer weniger ambitionierten Klimapolitik verlagern. Aktuell werde dieses Risiko durch kostenlose Zertifikat-Zuteilungen im Rahmen des ETS „gut adressiert“, sagte Koefoed Quinn.
Kostenlose CO2-Gutschriften „verwischen allerdings auch das Preissignal“, das der CO2-Markt den Stahlherstellern normalerweise geben würde – wodurch Anreize für die Industrie wegfallen, verstärkt in kohlenstoffarme Stahlproduktion zu investieren, merkte sie an. „Wenn wir die kostenlosen Zuteilungen wegnehmen, hätten wir ein klareres Preissignal seitens des ETS,“ sagte sie den Teilnehmenden der von Mitsubishi Heavy Industries mitausgerichteten Veranstaltung.
Sollte die CO2-Steuer angenommen werden, dürfte sie die EU-Exekutive auf Kollisionskurs mit dem Europäischen Parlament bringen. In einer Abstimmung Anfang des Monats hatten die EU-Parlamentsabgeordneten für die Beibehaltung der kostenlosen CO2-Quoten für Schwerindustrien wie Zement, Stahl und Chemikalien gestimmt.
Einige der größten europäischen Industriekonzerne haben die Abgeordneten des Europäischen Parlaments aufgefordert, ihre Position zur geplanten CO2-Grenzsteuer der EU zu ändern. Es ist ein offenbar verzweifelter Lobbying-Versuch in letzter Minute, bevor über die Regelung am Dienstag abgestimmt wird.
Die Stahlhersteller beharren ebenfalls darauf, dass sie weiterhin kostenlose CO2-Gutschriften im Rahmen des ETS erhalten müssten, während gleichzeitig die CO2-Grenzabgabe eingeführt wird.
„Bei der Stahlherstellung geht es nicht mehr um Profit, sondern ums Überleben,“ warnte Alexander Fleischanderl, Leiter des Bereichs Umweltlösungen bei Primetals Technologies, einem Ingenieur- und Anlagenbauunternehmen mit Sitz in London.
Der Stahlhersteller Thyssenkrupp hat seinerseits Pläne vorgelegt, um bis 2050 klimaneutral zu werden, und will dabei auf „grünen Wasserstoff“ in den Hochöfen setzen. „Wir planen, bereits 2030 etwa drei Millionen Tonnen grünen Stahl zu produzieren,“ erklärte dazu Erika Mink-Zaghloul, Leiterin der Abteilung für Regierungs- und Regulierungsangelegenheiten des deutschen Unternehmens. „Aber das ist natürlich sehr kostspielig,“ fügte sie hinzu und warnte, dass „wir unter den derzeitigen Bedingungen eigentlich kein Geschäft machen, keinen Business Case haben“, um in die wasserstoffbasierte Stahlproduktion zu investieren.
Der Investitionsbedarf ist in der Tat massiv: Die Umstellung des Stahlsektors auf eine wasserstoffbasierte Industrie würde etwa eine Milliarde Euro an Investitionen für jede Million Tonnen produzierten Stahls erfordern, rechnete Fleischanderl vor: „In Europa produzieren wir derzeit etwa 160 Millionen Tonnen Stahl pro Jahr, Sie können sich also vorstellen, was das bedeutet.“
Um diese Investitionen zu finanzieren, so Mink-Zaghloul, müssten die kostenlosen ETS-Gutschriften fortgesetzt werden. Wenn das rechtlich nicht möglich sein sollte, sollten andere Finanzierungsmechanismen geschaffen werden. Ansonst sei zu erwarten, dass die benötigten Investitionen seitens der Industrie wohl schlichtweg nicht getätigt werden.
Ein Startup namens H2 Green Steel will in Nordschweden die weltweit erste große Stahlproduktionsanlage, die mit grünem Wasserstoff betrieben wird, errichten.
Bis die Grenzsteuer voll einsatzfähig ist, wird der Preis für CO2-Zertifikate auf dem EU-CO2-Markt jedoch deutlich gestiegen sein, so Mink-Zaghloul weiter. Sie warnte, dass dies die Betriebskosten der Stahlhersteller in die Höhe treiben und ihre Fähigkeit, in sauberere Produktionsprozesse zu investieren, weiter untergraben werde. „Wenn wir auf der einen Seite kostenlose Zuteilungen verlieren, müssen wir sehen, welcher Mechanismus eingeführt werden kann, um dies an anderer Stelle zu kompensieren,“ forderte sie. Schlussendlich sei für ihre Branche klar: „Wir können uns einen solch dramatischen Anstieg der Betriebskosten nicht leisten.“
Es brauche daher ein entsprechendes „regulatorisches Rahmenwerk, um den Übergang von der CO2-Wirtschaft zur Wasserstoffwirtschaft zu überbrücken“, sagte sie und fügte hinzu, dass die Stahlindustrie „ein relativ kurzes Zeitfenster“ habe, um diese Investitionen zu planen. Schließlich würden diese typischerweise über einen Zeitraum von 25 Jahren getätigt.
Diese „Übergangsprobleme“ werden auch von der Europäischen Kommission eingeräumt: „Wir prüfen verschiedene Möglichkeiten zur Einführung des CO2-Grenzausgleichsmechanismus. In der Tat könnte eine Übergangsphase notwendig sein; wir schauen uns an, wie das gemacht werden könnte,“ versprach Koefoed Quinn, ohne jedoch weiter darauf einzugehen.
Sirpa Pietikainen, eine finnische konservative Europaabgeordnete, sprach ebenfalls von einer „möglichen Übergangszeit“ von fünf Jahren, in der die Grenzsteuer schrittweise eingeführt würde, während freie Verschmutzungszertifikat-Zuteilungen im Gegenzug schrittweise abgeschafft würden.
Doch auch sie betonte, die Kompatibilität mit den WTO-Regeln sei eine klare rote Linie – die überschritten würde, wenn Stahlhersteller eine Art doppelte Kompensation im Rahmen des ETS erhalten.
Essenziell wichtig sei in jedem Fall, dass die neue Abgabe Umweltziele verfolgt, aber auch mit den WTO-Regeln vereinbar ist.
Mink-Zaghloul konterte dazu, alle seien sich einig, dass die WTO-Regeln eingehalten werden müssten. „Aber gleichzeitig müssen wir eine Lösung finden, die es uns ermöglicht, in Europa zu wachsen, unser Geschäft hier weiterzuführen und Teil der grünen Transformation zu sein. Das ist das Dilemma, in dem wir uns befinden.“
Sie forderte die Politik auf, sich mit der Industrie zusammenzusetzen, um eine Lösung zu finden.
Kommissionsmitarbeiterin Koefoed Quinn räumte ein, dass Kohlenstoffpreise allein nicht ausreichen werden, um „die Lücke zu schließen“ und die Industrie zu Investitionen in eine emissionsfreie Stahlproduktion zu bewegen. „Daher sind zusätzliche politische Maßnahmen zur Unterstützung sehr wichtig,“ meinte auch sie, erinnerte aber im gleichen Atemzug an die zahlreichen bereits bestehenden EU-Programme zur Unterstützung von Innovation, Elektrifizierung, erneuerbaren Energien und sauberer Wasserstoffproduktion.
Um die Investitionen in grüne Technologien zu erhöhen, verfüge die EU über mehrere Finanzierungsmechanismen, wie den ETS-Innovationsfonds, das InvestEU-Programm und nun auch den 750 Milliarden Euro schweren Recovery Fund, betonte die Beamtin. Man wolle sicherstellen, dass die Industrie Investitionen in neue Technologien tätige, die derzeit noch nicht profitabel sind.
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Langfristig seien sich alle einig, dass sogenannter „grüner Wasserstoff“ die beste Lösung für die Stahlindustrie ist: „Ich würde direkt zu vollständig grünem und erneuerbarem Wasserstoff in größtmöglichem Umfang übergehen“, statt zu „halbgaren Lösungen“ wie fossilem Wasserstoff mit CO2-Abscheidung und -speicherung, sagte MEP Pietikainen.
Eine andere Frage ist allerdings, ob Europas aktuell winzige Produktionskapazitäten für grünen Wasserstoff vorrangig für den Einsatz in Industrien wie der Stahlherstellung oder der Chemie reserviert werden sollten, die derzeit keine ernsthaften Aussichten zur schnellen Dekarbonisierung in großem Maßstab haben. „Wir sollten die Sektoren und Anwendungsbereiche priorisieren, in denen wir den größten Nutzen erzielen,“ glaubt jedenfalls Mink-Zaghloul. Sie zitierte Zahlen, die zeigen, dass jede Tonne grüner Wasserstoff in der Stahlproduktion 26 Tonnen CO2 einsparen kann, während das Verhältnis im Transportwesen lediglich „bei 6 bis 7“ liege.
Max Åhman, Dozent an der Universität Lund in Schweden, geht ebenso davon aus, dass die meiste Nachfrage nach Wasserstoff in jedem Fall von großen Industriesektoren wie der Chemie- und Stahlindustrie kommen wird. „Es geht jetzt darum, die richtigen langfristigen Bedingungen zu schaffen, damit diese riesigen und risikoreichen Investitionen unter normalen wirtschaftlichen Bedingungen machbar sind“, sagte Åhman. „Und die Politik ist dabei ein großer Risikofaktor“.
Er warnte deshalb, „einer der wichtigsten Punkte“, der im europäischen Politikmix bisher noch fehle, sei die Schaffung eines klaren Marktsignals oder Anreizes für grünen Stahl nach 2030.
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins]
> Hier finden Sie das komplette Video zur EURACTIV-Veranstaltung:
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