Die ukrainische Kirche hat sich von Russland abgespalten. Dadurch verliere Moskau die Deutungshoheit über das Erbe der Kiewer Taufe, sagt die Theologin Regina Elsner. Sie kritisiert Patriarch Kyrill, Metropolit Hilarion und die Freiburger Theologin Barbara Hallensleben.
Raphael Rauch
Die russisch-orthodoxe Kirche in der Ukraine hat sich von Moskau abgespalten. Wie beurteilen Sie diesen Schritt?
Regina Elsner*: Es ist ein wichtiger Schritt auf einem Weg, der bereits vor dem Krieg angefangen hat und auch noch nicht am Ende ist. Die ukrainische Orthodoxie ist seit vielen Jahren mit ihrer ukrainischen Identität und ihrer Relevanz für die ukrainische Gesellschaft beschäftigt. In den vergangenen Jahren gab es viele Konflikte und Anfeindungen deswegen. Die Trennung bedeutet angesichts der Kriegspropaganda durch die Kirchenleitung in Moskau eine wichtige Befreiung, aber wie gesagt: Viele kirchenrechtliche Aspekte sind noch unklar und der Prozess beginnt gerade erst.
Metropolit Hilarion akzeptiert diesen Schritt, Patriarch Kyrill nicht. Was gilt jetzt?
Elsner: Das stimmt so nicht. Metropolit Hilarion und auch andere Sprecher der russisch-orthodoxen-Kirche betonen lediglich, dass die ukrainisch-orthodoxe Kirche bereits seit 1990 als «autonom» gilt und sich darum an ihrem Status eigentlich nichts ändert – Hilarion kann das also gut bestätigen, denn das Wort «Autonomie» ist nicht neu, das Wort Autokephalie ist hingegen von der ukrainischen Kirche noch nicht benutzt. Aber man merkt an den Äusserungen aus Moskau, dass diese Entscheidung des Konzils in Kiew die Kirchenleitung in Bedrängnis bringt. Sie verliert einen großen Teil der Gläubigen und kann nur noch schwer sagen: Das sind ein paar wenige, die dem Druck von «externen Mächten des Bösen» nicht standgehalten haben. Man verliert mit dieser Trennung auch die Deutungshoheit über das Erbe der Kiewer Taufe. Aber man merkt eben auch, dass die Aussagen aus Kiew bisher so ambivalent sind, dass Moskau sie noch in seinem Sinn auslegen kann.
Wie geht’s nun weiter?
Elsner: Viel hängt jetzt davon ab, ob die beiden Kirchen in der Ukraine Vertrauen zueinander finden können, das ist aktuell die grösste Herausforderung. Wenn es ihnen gelingt, wird es schnell eine gestärkte ukrainische Orthodoxie geben, die auch die gesellschaftliche Versöhnung unterstützen kann. Wenn das nicht passiert, wird es lange eine unklare Situation über diese Kirche geben, die dann weder von Moskau noch von anderen Kirchen der Welt anerkannt wird – ganz ähnlich, wie das Patriarchat von Kiew von 1992 bis 2018. Deshalb hängt auch viel von der Reaktion der anderen orthodoxen Kirchen ab, vom ökumenischen Patriarchen etwa. In jedem Fall wird es alles viel Zeit und eben auch guten Willen auf allen Seiten brauchen, beides ist allerdings im akuten Krieg nicht leicht aufzubringen.
Seit drei Monaten herrscht Krieg in der Ukraine. Wo steht die Ökumene?
Elsner: Das kommt ganz auf die Ebene an, die wir anschauen. Was den Vatikan und die russisch-orthodoxe Kirche betrifft, habe ich den Eindruck: Beide Seiten haben nach wie vor einen guten Draht miteinander. Zumindest strahlt Papst Franziskus das aus. Von den Vatikan-Diplomaten hört man das weniger deutlich. Wenn wir aber nationale Bischofskonferenzen anschauen oder Gesprächsformate der Ökumene, erleben wir de facto einen Abbruch der Gespräche und einen neuen Tiefpunkt.
Wie beurteilen Sie die Video-Konferenz vom März 2022, an der Papst Franziskus, Patriarch Kyrill, Kardinal Kurt Koch und Metropolit Hilarion teilgenommen haben?
Elsner: Zunächst einmal wussten wir sehr wenig über das Gespräch. Moskau hat ja eine sehr freundlich klingende Pressemeldung veröffentlicht. Fast zwei Monate später hat der Papst in einem Interview das Moskauer Narrativ korrigiert und klargestellt, dass das Gespräch ganz anders verlaufen ist. Und dass er überhaupt nicht zufrieden damit war.
Wie hat Moskau auf Franziskus’ Klartext-Interview reagiert? Er hatte Kyrill ja gewarnt, er solle kein Ministrant Putins werden…
Elsner: Moskau hat dieser Darstellung deutlich widersprochen und gesagt, Franziskus würde die Situation falsch darstellen und man wäre sich im Gespräch durchaus einig gewesen.
Ist der Moskauer Patriarch Kyrill ein Kriegstreiber?
Elsner: Eindeutig: Ja!
Welche Entwicklung nehmen Sie in seinen Äusserungen seit Kriegsausbruch wahr? Wird seine Rhetorik zahmer?
Elsner: Es sind zwei grosse thematische Linien, mit denen Kyrill argumentiert und die miteinander zusammenhängen – zahmer sind sie nicht geworden. Für ihn gibt es einerseits einen metaphysischen Kampf zwischen Gut und Böse. In seinem Weltbild stehen Gay-Paraden für das Böse, das unbedingt verhindert werden muss. Diese Verteidigung gegen liberale Werte als Kriegsgrund hat in meiner Wahrnehmung etwas nachgelassen – vielleicht auch, weil es international nicht überzeugt.
«Kyrill kennt letztlich keine souveräne Ukraine.»
Die zweite Linie ist die Vereinnahmung der Ukraine als eigenes Territorium. Kyrill betont, dass Moskau Deutungshoheit über die Ukraine habe und er letztlich keine souveräne Ukraine kennt. In seinen letzten Predigten ging es immer wieder darum, dass Russland die «eigene» Bevölkerung schützt, dass die Christen dort verfolgt werden. Diese Aussagen zur Einheit des Volkes und der externen Bedrohung sind wieder sehr viel stärker geworden, als es am Anfang war.
Ist Metropolit Hilarion ein Kriegstreiber?
Elsner: Das kann man so eindeutig nicht sagen. Er hat sich sowohl vor dem Krieg als auch während des Krieges sehr zurückhaltend geäussert. Er hat die russische Kriegsführung aber auch nicht kritisiert. Hilarion sieht seine Rolle darin, die Brücke zum Westen aufrechtzuerhalten. Er gehört zu den wenigen, die noch reisen. Kyrill dürfte ja bald unter die Sanktionen fallen – ans Reisen ist nicht mehr zu denken.
Barbara Hallensleben hat sich weniger kritisch über die Kirchenleitung in Moskau geäussert. Wie schätzen Sie das ein?
Elsner: Ich kenne Barbara Hallensleben als erfahrene Teilnehmerin im katholisch-orthodoxen Dialog. Wir waren 2019 zusammen auf einer Moskau-Reise mit dem damaligen deutschen Aussenminister Heiko Maas. Ich weiss, wie wichtig Frau Hallensleben der Dialog zum Moskauer Patriarchat ist. Trotzdem halte ich ihre Äusserungen zum Krieg für problematisch, vor allem jene am Anfang des Krieges. Barbara Hallensleben hat aus meiner Sicht Kyrills Kriegstreiberei verharmlost.
Braucht es in Krisenzeiten aber nicht Menschen wie Barbara Hallensleben, die für Moskau eine Ansprechpartnerin bleiben?
Elsner: Unbedingt. Aber Gespräche heissen ja nicht, dass man die Wahrheit nicht beim Namen nennen sollte: dass die russische Kirche seit Jahren Repressionen und nun eben auch den Krieg legitimiert. Barbara Hallensleben steht in der Tradition der vatikanischen Ostpolitik, wo jeder noch so manipulierte Gesprächsfaden als Schatz gilt.
Warum interessiert sich der Vatikan so sehr für die russisch-orthodoxe Kirche – sogar so stark, dass er andere Beziehungen innerhalb der Orthodoxie deswegen vernachlässigt?
Elsner: Während des Kalten Kriegs war es bedeutsam, mit dieser traditionsreichen Kirche hinter dem Eisernen Vorhang den Kontakt zu halten und sich für Religionsfreiheit einzusetzen. Ganz allgemein ist für viele in der katholischen Kirche die Spiritualität der russischen Orthodoxie interessant. Es gibt hier teilweise eine Mystifizierung dieser Tradition, die man in der katholischen Kirche vielleicht vermisst. Schliesslich gibt es aber auch eine strategische Partnerschaft: Mit Blick auf konservative Werte ist die russisch-orthodoxe Kirche für den Heiligen Stuhl eine wichtige Verbündete.
«Kyrill und Hilarion hätten die Freiheit, dem Kriegstreiben deutlicher zu widersprechen.»
Russland ist eine Diktatur. Wie viel Spielraum hat Metropolit Hilarion überhaupt?
Elsner: Wir können von einem Priester oder von einfachen Gläubigen in Russland nicht erwarten, dass sie öffentlich in die Opposition gehen. Dafür ist das System zu repressiv. Aber das gilt nur bedingt für die Kirchenführung. Metropolit Hilarion hätte genauso wie Patriarch Kyrill natürlich die Freiheit, kritischer zu sein und dem Kriegstreiben deutlicher zu widersprechen.
Wie beurteilen Sie das Verhalten von Kurienkardinal Kurt Koch, dem Ökumene-Minister des Vatikans?
Elsner: Er ist als Vorsitzender des Einheitsrates eine wichtige Person in den ökumenischen Beziehungen und natürlich ein wichtiger Akteur in den aktuellen Kontakten. Er hat sich kritisch geäussert über den Krieg, ist aber auch sehr zurückhaltend im Kontakt mit Moskau.
Warum schickt der Papst nicht Kardinal Koch in die Ukraine, sondern andere Kardinäle?
Elsner: Die Ukraine ist für die Ökumene durch die innerorthodoxen Konflikte ein schwieriges Gelände. Der Vatikan hält sich an das Prinzip der Nichteinmischung in Konflikte innerhalb der Orthodoxie. Aber wenn Kardinal Koch als Vorsitzender des Einheitsrates nach Kiew reisen würde, müsste er sich mit den dortigen Kirchenführern treffen. Damit würde er automatisch eine Position in dem Streit um die ukrainische Orthodoxie beziehen – je nachdem, mit welchen Kirchen er sich treffen würde. Das könnte den Vatikan den Gesprächskanal nach Moskau kosten und das will man unbedingt vermeiden. Darum reisen etwa Kardinäle, die für humanitäre Hilfe zuständig sind oder besondere Regionalkompetenz haben, und man umgeht das ökumenische Glatteis.
Sollte der Weltkirchenrat die russisch-orthodoxe Kirche ausschliessen?
Elsner: Ich bin da unentschlossen. Ein Ausschluss könnte aktuell mehr Schaden bringen als nutzen, auch angesichts starker antiökumenischer Strömungen in anderen orthodoxen Kirchen. Es ist ein schwieriges Abwägen – ich tendiere momentan zu einem Nein. Aber man muss dann dafür sorgen, dass ukrainische Stimmen ausreichend gehört werden können.
* Die katholische Theologin Regina Elsner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS, dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin. Sie ist Co-Sprecherin der Fachgruppe «Religion der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde» und Mitglied des «Pro Oriente Steering Committee for the Orthodox-Catholic Dialogue».
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