Die zu rezensierende Band auf meinem digitalen Schreibtisch startete 2006 in Polen unter dem Namen HOLLOW. 2022 legt die nunmehr unter dem Namen RETROSPECTIVE reüssierende Band ein Album mit dem Namen „Introvert“ vor. Dieser Name ist Programm, fast Programm-Musik, später dazu mehr.
Der selbstredende erste Lied-Titel „Log Out“ beginnt verhalten, das Klavier ist hier die tonangebende Konstante, Synthesizer setzen ein, der Reigen beginnt mit einem Takt nahe beim musikalischen Herzschlag von modernem Rock und Co.: 4/4. In knapp neun Minuten streben Schallwellen zu meinen Ohrwascheln, die angenehm aufgeräumten Sound preisgeben, progressive Elemente muss ich allerdings überhört haben. Der männliche wie weibliche Klargesang gefallen. Was den Text betrifft, hätte ich gedacht, dass mir RETROSPECTIVE eine interessante Geschichte erzählen wollen, na ja, so bleiben die Lyrics der einzige Kritikpunkt.
„New Perspective“ schließt nahtlos an, wo der Opener aufgehört hat. Aufgeräumt, radiotauglich, das Klavier scheint für diese Band tonangebend zu sein, Experimente werden hier keine auf dem Labortisch der modernen Musikgeschichte offenbart. Sogar die Synthesizer-Elemente runden das sowieso einheitliche Gesamtbild ab.
„Invincible Man“: Okay, musikalisch wie gehabt. Was die Lyrics betrifft, habe ich so meine Probleme damit. Finde es sehr löblich, dass RETROSPECTIVE diese mitgesandt hat, allerdings Kostprobe: „Burning blood in my veins. I keep confusing the names. Here I´m standing, almost alive one for you." Ein Filmzitat aus „Die Ritter der Kokosnuss“ passt hier gut dazu, würde ich meinen: „Wos“?
„Intoxinated Generation“: Es dauert ein Weilchen, bis das Gift seine Wirkung zeigt. Hm, das Lied ist mit knapp zehn Minuten für meinen Geschmack zu lange, jedenfalls, wenn wie hier der Duktus breit- und langgetreten wird, ohne dass Takt, Tempo oder sonstige Elemente variierten.
„Away“ passt irgendwie, denn der Schlagzeuger gibt stellenweise sein Zeugl ab, auf dass ein Drum-Computer seinen Job erledigt. Sakrileg. Der Sound schmiegt sich wie gehabt unspektakulär, geschmeidig ans Innenohr. Es mangelt an Höhepunkten. Die Lyrics lassen auf einen Abschied schließen. Gegen Ende rettet der weibliche Gesang gewissenmaßen den Song.
Der Titel des letzten Liedes „Self-Control“ scheint Programm bei RETROSPECTIVE zu sein. Ein bisschen mehr Esprit hätte hier wahrlich nicht geschadet. Es bleibt mir ein Zitat des kürzlich verstorbenen, fast möchte man schreiben Universalgelehrten, Hans Magnus Enzensberger zu kredenzen: „Affektkontrollen führen zu Neurosen.“ Gleichzeitig klingelt es. Der Plattentitel „Introvert“ bezieht sich auf den Sound an sich. Ja, das ist selbstverständlich ein kluger Move.
Fazit: Grundsätzlich geht das Album in Ordnung. In Hinblick darauf, dass RETROSPECTIVE den Sound sozusagen „nomen est omen“ mit dem Plattentitel verrät, nämlich eher verhaltenen eingängigen Sound, bei dem meistenteils das Klavier das Zepter, die Notenpresse, übernimmt, verstehe ich in etwa, worauf die Band hinauswill. Allerdings würde ich beim nächsten Mal etwas mehr Abwechslung, was Takte, Tempi, was auch immer, empfehlen. Es muss nicht hinter jeder neuen Note ein Ester-Egg aufpoppen, für etwaige Hörer*innen ist es, denke ich, essentiell, mit einem Spannungsbogen aufzuwarten, der seit den Griechischen Tragödien funktioniert (Prolog bis Exodos, die natürlich gebrochen werden dürfen, Maynard James Keenan lässt grüßen).