Das Coronavirus infiziert nicht nur die menschliche Netzhaut, sondern kann sich auch darin vermehren
Das Coronavirus Sars-CoV-2 verursacht nicht nur Infektionen der Atemwege. Auch andere Organsysteme, wie das Nervensystem, können betroffen sein. Tatsächlich wurde in Autopsien von Patienten, die an Covid-19 gestorben sind, mRNA von Coronaviren im Gehirn nachgewiesen. Es gibt zudem immer mehr Hinweise darauf, dass Coronaviren auch in die Netzhaut des Auges gelangen und Schäden anrichten können. Doch es ist unklar, welche Netzhautstrukturen von Sars-CoV-2 infiziert werden und ob die Netzhautschäden direkt oder indirekt Folge einer Infektion der Netzhaut sind. Ein gemeinsames Forscherteam unter der Leitung von Thomas Rauen und Hans Schöler vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin und dem Virologen Stephan Ludwig von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat nun beschlossen, Organoide – ein organähnliches Modellsystem – der Netzhaut aus menschlichen reprogrammierten Stammzellen zu verwenden, um die Sars-CoV-2 Infektion der Netzhaut zu untersuchen. Sars-CoV-2 infiziert demnach tatsächlich Netzhautzellen, vor allem retinale Ganglienzellen, aber auch Lichtsinneszellen. Darüber hinaus zeigen die Forscher, dass sich Coronaviren auch in diesen Zelltypen vermehren können. Diese Erkenntnis ist neu und unterstreicht die Notwendigkeit, retinale Pathologien als mögliche Folge von „Long Covid“ zu beobachten.
Querschnitt durch einen Teil eines Retina-Organoids: Am Tag 143 ihrer Differenzierung enthält die innere Körnerschicht (unten) die Zellkörper funktionell unterschiedlicher Zellen: die der Amakrin- und Horizontalzellen (weiß) und der Müller-Gliazellen (rot). Die äußere Körnerschicht (oben) enthält die Zellkörper der Fotorezeptoren (Lichtsinneszellen; grün). Die Skizze rechts zeigt in derselben Orientierung wie im Organoid die Zelltypen und Struktur der Netzhaut von Wirbeltieren: Das Licht fällt hier von unten ein und durchquert die gesamte Retina bis es auf die Fotorezeptoren (oberste Zellschicht in Grau) trifft. In der inneren Körnerschicht finden sich Amakrin- und Horizontalzellen (weiß) sowie Bipolarzellen (grün). Müller-Gliazellen (rot) durchspannen die gesamte Retina. Die Axone der retinalen Ganglienzellen (grau) bilden den Sehnerv und übertragen das Lichtsignal ins Gehirn.
© MPI für molekulare Biomedizin/ Yotam Menuchin-Lasowski
Dass das von Yotam Menuchin-Lasowski am münsterschen Max-Planck-Institut etablierte menschliche Organoidmodell der Netzhaut in der Erforschung von Sars-CoV-2 Anwendung finden würde, hätte der Wissenschaftler vor gut drei Jahren nicht gedacht. Damals begann der Wissenschaftler mit der Arbeit an dem Modellsystem, das auf menschlichen reprogrammierten Stammzellen basiert, als Teil des von der Max-Planck-Gesellschaft geförderten White Paper Projektes “Brain Organoids: Alternatives to Animal Testing”.
Als immer mehr Fälle von neurologischen Beeinträchtigungen und auch Sehstörungen während oder nach einer Corona-Infektion durch die Medien gingen, schien es den Max-Planck-Forschern nur logisch, Netzhautorganoide für Untersuchungen zu Sars-CoV-2 in der Netzhaut einzusetzen. Denn verschiedene Studien an Retina-Biopsien von mehreren Patienten, die an Covid-19 gestorben waren, konnten das Virus in der Netzhaut nachweisen. Tatsächlich erweist sich nun das Retina-Organoid-Modell als relevante Alternative zu Tierversuchen, da sich Sars-CoV-2-Infektionen beim Menschen nicht oder nur unzulänglich im Tiermodell nachbilden lassen. „Unser Retina-Organoidsystem bildet die anatomisch komplexe Struktur der menschlichen Netzhaut erstaunlich gut nach“, sagt Yotam Menuchin-Lasowski.
Als Ausgangszelltyp für die Netzhautorganoide wurden menschliche iPS-Zellen verwendet. Das sind Zellen, die aus Biopsien gewonnen und zu künstlich induzierten Stammzellen umprogrammiert wurden. „In vier bis fünf Monaten entstehen aus den iPS-Zellen unter geeigneten Kulturbedingungen ausgereifte Retina-Organoide, in denen sich die verschiedenen Zelltypen in Netzhaut-typischer Weise anordnen“, sagt Menuchin-Lasowski.
Immunfluoreszenzaufnahmen von Sars-CoV-2 Nukleoprotein (N)-positiven Zellen (grün) zeigt Sars-CoV-2-infizierte Zellen in retinalen Organoiden. Die Sars-CoV-2 infizierten Zellen in der rechten Abbildung weisen die typische Morphologie von Fotorezeptoren auf.
© MPI für molekulare Biomedizin/ Yotam Menuchin-Lasowski
Die ausgereiften Netzhautorganoide wurden von André Schreiber und Stephan Ludwig vom Institut für Molekulare Virologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in einem Sicherheitslabor der Schutzstufe 3 mit Sars-CoV-2 Viren inkubiert und anschließend nach festgelegten Inkubationszeiten analysiert. So gelang den Forschern mittels quantitativer PCR-Analyse der Nachweis von Sars-CoV-2 mRNA in den Organoiden, was darauf hindeutet, dass Zellen in den Organoiden tatsächlich vom Virus infiziert wurden.
Um darüber hinaus die aktiven Viruskonzentrationen zu messen, die von den infizierten Organoiden nach verschiedenen Inkubationszeiten produziert wurden, verwendeten die Wissenschaftler einen sogenannten viralen Plaque-Assay. Und tatsächlich: dieser Test zeigte, dass sich in den Retina-Organoiden neue Virusnachkommen gebildet hatten. „Dies ist der erste Nachweis, dass sich Sars-CoV-2 in menschlichen Netzhautzellen repliziert“, sagt Thomas Rauen, der mit Hans Schöler die White Paper Projektgruppe “Brain Organoids: Alternatives to Animal Testing” leitet. „Unser von der Max-Planck-Gesellschaft gefördertes Projekt hat jetzt Früchte getragen“, freut sich Thomas Rauen.
Um zu erfahren, welche Zellen in den Retina-Organoiden betroffen sind, analysierten die Forscher die Organoide im Fluoreszenzmikroskop. Mithilfe verschiedener Immunmarker für die unterschiedlichen Zelltypen der Netzhaut und mit einem fluoreszierenden Antikörper gegen das Nucleoprotein (N-Protein) von Sars-CoV-2 zeigte sich, dass hauptsächlich zwei Zellschichten der Retina-Organoide infiziert wurden. „Zum einen befanden sich viele der N-Protein-angefärbten Zellen in der äußeren Körnerschicht der Organoide,“ sagt Yotam Menuchin-Lasowski. Das ist die Zellschicht, in der sich die Fotorezeptoren befinden – also die Zapfen und Stäbchen, die das eintreffende Licht in Nervenimpulse umwandeln. „Einige dieser Zellen mit dem N-Protein wiesen tatsächlich das typische Aussehen der Lichtsinneszellen auf“, ergänzt er. „Der Zelltyp, in dem wir jedoch am häufigsten das N-Protein von Sars-CoV-2 nachweisen konnten, sind retinale Ganglienzellen“, sagt Menuchin-Lasowski. Diese Zellen befinden sich in der innersten Schicht der Retina und geben alle Signale von der Netzhaut über den Sehnerv ins Gehirn weiter.
Interessanterweise hängen viele der mit Covid-19 assoziierten Netzhautsymptome mit retinalen Ganglienzellen zusammen, die bisher allerdings vorwiegend mit sekundären Auswirkungen anderer Sars-CoV-2-verursachter Krankheitssymptome in Verbindung gebracht wurden, wie z. B. Schäden an den Blutgefäßen oder einer Erhöhung des Augendrucks. „Unsere aktuelle Retina-Organoid Studie zeigt jedoch, dass eine Infektion mit Sars-CoV-2 direkte pathologische Folgen für die retinalen Ganglienzellen haben kann, auch wenn Sehbehinderungen bei Patienten mit Covid-19 nicht häufig vorkommen“, sagt Thomas Rauen. „Doch unsere Daten geben uns Grund zur Annahme, dass sogenannte Long-Covid-Symptome degenerative Erkrankungen der Netzhaut einschließen können.“
Hans Schöler, der als Emeritus die White Paper Forschungsgruppe zusammen mit Thomas Rauen leitet, sagt: „Hier zeigt sich das volle Potential der Organoidforschung: Retina-Organoide eignen sich besonders gut für die Untersuchung von Netzhautpathologien. Durch die fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Abteilung von Stephan Ludwig konnten wir Einblicke in die Netzhautbeteiligung bei Covid-19 und möglicherweise auch bei Long-Covid gewinnen.“
Eine umfassende Studie zur Partikelemission beim Atmen bei Erwachsenen und Kindern
Keine Hinweise auf Coronaviren einschließlich Omikron im Gehirn
Verschiebung der Sterbefälle von Hochbetagten zu Menschen im mittleren Alter
Musizieren mit Blasinstrumenten verbreitet mehr Viren als der Atem, aber weniger als Sprechen oder Singen
Gehirn-Stammzellen des modernen Menschen machen weniger Fehler bei der Verteilung ihrer Chromosomen auf die Tochterzellen
Informationen über die positive Haltung der Ärzteschaft gegenüber Covid-19-Impfstoffen erhöhen die Impfbereitschaft nachhaltig
Max-Planck-Forschende identifizieren epitheliale Stammzellen, die das Wachstum des Thymus in verschiedenen Lebensabschnitten steuern
Algorithmus kann vorhersagen, welche Covid-19-Patienten das höchste Sterberisiko haben und intensivmedizinisch behandelt werden müssen
Dortmunder Forschungsinitiative zeigt Nutzen der Impfung nach Genesung von Covid-19
Forschende entdecken mit Hilfe minimalistischer Sars-CoV-2-Virionen einen Faltmechanismus des Spike-Proteins
2023, Max-Planck-Gesellschaft
© 2003-2023, Max-Planck-Gesellschaft