Musikerin Natalie Mering alias Weyes Blood
Neil Krug / Cargo Records
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Wer hat das nicht in den vergangenen Wochen schon mal erlebt: Man traut sich nach der allgemeinen Pandemievermurmelung wieder raus, geht auf ein Konzert oder eine Party – und muss sich erst mal daran gewöhnen, unter Menschen zu sein. Oder an Menschen überhaupt. Dann sitzt man noch verzagt in einer Ecke, nippt am Drink, guckt den Leuten dabei zu, wie sie so tun, als wäre alles so wie vorher – und fragt sich, ob man wohl der oder die Einzige ist, die sich verändert, vielleicht verschroben, nicht mehr kompatibel fühlt. Hat sich nicht gerade so vieles fundamental verändert? Herrscht nicht Krieg? Geht nicht die Welt am Klimakollaps zugrunde? Können wir einfach so weitermachen wie bisher?
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Die US-amerikanische Musikerin Natalie Mering, die sich Weyes Blood nennt, macht Musik, die dieses Sentiment, dieses »sinking feeling« der Bodenlosigkeit, warm und emphatisch abfedert. Gleich der erste Song auf ihrem neuen Album beschreibt oben genannte Partysituation der Entfremdung, aber Mering beruhigt ihre Zuhörer mit beruhigend zuversichtlichem Pianoanschlag, luxuriös-melancholischem Carpenters-Pop und selbstbewusstem Gesang, der Vorbilder wie Carole King und Joni Mitchell channelt: »It’s not just me, it’s everybody«, singt sie: Es liegt nicht an dir. Wir fühlen alle dasselbe Unbehagen im Angesicht der Apokalypse. Aber hey, ist schon okay, »we all bleed the same way«.
Mering ist eine auch live faszinierende, zunächst fragil wirkende Persönlichkeit mit langen, dunkelbraunen Haaren, aber einer so magischen, erhabenen Singstimme, dass sie selbst notorisch verquasselte Berliner Konzerträume ohne viel Nachdruck oder Lautstärke in andächtige Stille zwingt. Nun zeigt sich, dass sie vielleicht sogar eine Pop-Hellseherin ist. Schon ihr letztes Album »Titanic Rising« lehnte sich mit tröstlichem Breitwand-Sound und Hollywood-Grandezza weit in die allgemeine Untergangsahnung hinein – da war von Corona und Lockdowns und Krieg in der Ukraine noch gar keine Rede.
Christian O. Bruch / laif
Weyes Blood: Children Of The Empire
Richard Dawson: Thicker Than Water
Herbert Grönemeyer: Deine Hand
Pole: Stechmück
Kelela: On The Run
Nene H: Fukken Lie
Romy & Fred Again: Strong
GloRilla: No More Love
Shame: Fingers of Steel
Pogendroblem: Vermögenssteuer
Bonus-Track:
Neil Young with Crazy Horse: Chevrolet (nur Apple Music)
»And in the Darkness, Hearts Aglow« ist nun der zweite Teil einer Art Doom-Trilogie – und nimmt ein Schaumbad in den Gefühlswogen der Wehmut, in das man sich, wohlig erschauernd, sehr gern mit hineingleiten lässt. Statt »Titanic« ist diesmal eher das »Poseidon Inferno« die passende Folie, wo im gleichnamigen Kreuzfahrt-Katastrophenfilm von 1972 die Hippieband noch am Vorabend der Killerwelle lieblich, leicht seifig, aber unwiderstehlich schmettert: »There’s gotta be a morning after, if we could hold on through the night.«
Auf eine subtil mit elektronischen Elementen verfeinerte Weise, die zurzeit neben ihr vielleicht nur die Arctic Monkeys beherrschen, reproduziert Mering diese nostalgisch vertraute Siebzigerjahre-Klangkulisse, in der Chöre behutsam kolorieren, Streicher seufzen und wiegende Walzerarrangements in den Laurel Canyon entführen, in manchen Harmonien sogar zu den Eagles oder Musicals wie »Hair«. In »Grapevine« macht sie sich zur Muse der Klimakatastrophen und wirft sich todesmutig in die verzehrende Glut einer Romanze, die auch ein unaufhaltsamer Flächenbrand ist: »California is my body / And your fire runs over me«, singt sie.
»God Turn Me Into a Flower«, fast nur von Orgel, Engelschor und gleißenden, kosmischen Synthesizerklängen begleitet, ist ein Bekenntnis zur Demut und Zartheit, das die Erwartung der drohenden Niederlage in sich trägt, die Vergänglichkeit von Ruhm und allem Irdischen: »It’s good to be soft when they push you down.« Sei eine Blume und blühe, solange du kannst. Lange wird’s eh nicht sein. Ach, seufz.
Preisabfragezeitpunkt
31.12.2022 09.03 Uhr
Keine Gewähr
Aber das Schöne an Weyes Blood ist, dass sie ihre fatalistischen Wiegenlieder auf dem Weg in die allumfassende Dunkelheit seit ihrem Debüt »The Innocents« immer weiter perfektioniert, sodass sie nun selbst allergrößte Kitschvorbehalte entwaffnen können. Wenn sie sich in »Hearts Glow« mit Weihnachtsglocken, Gitarrensolo und vollfetter Schmalzgebäckwucht danach sehnt, dass jemand ihr kaltes Herz wieder entflammen möge, schmilzt man so wohlig-widerwillig dahin wie beim festlich-gemütlichen Heiligabend mit »Love Actually« im Fernsehen und Frost am Fenster. »It’s about the power of having your heart so broken that it would emanate a light«, sagt Natalie Mering über ihr bisher bestes Album: Aus größter Zerstörung kann doch wieder ein Urknall der Hoffnung entstehen. Und Liebe. Solange wir uns nur zusammenraufen und verzeihen können.
Der fröhlichste Song kommt daher kurz vor Schluss, mit beschwingten Akustikgitarren, Cowbells und drolligen Baaa-ba-ba-ba-baaaah-Chören sowie einem für diese ewig ätherische Musik schon fast griffigen Poprefrain: »The Worst Is Done«: Das Schlimmste haben wir hinter uns? Abwarten. Ein Album fehlt noch. Aber wie so oft bei Trilogien könnte es der Mittelteil sein, der am Ende überdauert. (9.2)
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Das 42. Studioalbum von Alt- und Ökorocker Neil Young beginnt so windschief und niedlich, dass man sich eher in der »Muppet Show« als in der »barn« mit Crazy Horse wähnt: Pianogeklimper, Countrygeschunkel und ein mit Kinderstimme gesungener Refrain, der das Thema von »World Record« früh auf den Punkt bringt: »Love earth / And your love comes back to you / Such an easy thing to do«: Liebe die Erde, und die Erde wird dich zurücklieben. Hach, ein Hippietraum. Young spielt dann später auch noch Pumporgel und, äh, Plastikwanne zu rumpeligen Liebeserklärungen an Mutter Natur, die wir mit Zuneigung, Rücksicht und Biodiesel immer noch retten können. Nils Lofgren, Billy Talbot und Ralph Molina zauseln sich zusammen mit ihrem Chef durch mal Folkzartes (»This Old Planet«), mal durch ruppig Verlärmtes (»I Walk With You«, »Break the Chain«). Was das alles soll, erklärte Young kürzlich im SPIEGEL-Gespräch . Unter anderem auch, warum es kein Widerspruch ist, wenn es über viele Songs hinweg um Umweltsorgen und andere Weltschmerzen geht, das zentrale, 15 Minuten lang in die Ewigkeit gniedelnde Stück des Albums aber letztlich eine nostalgische Ode an »Chevrolet« ist. Produziert wurde der Crazy-Horse-Trip erstmals von Rick Rubin, aber man hat den Eindruck, dass sich der Reduktionsguru die meiste Zeit nur still in die Ecke gesetzt und milde mit dem Kopf genickt hat – alle Sound- und Bewusstseinsregler ganz weit offen. (7.6)
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Vergänglichkeit ist ja gerade das große Thema in der Popmusik, wie es scheint. Für Stefan Betke, den Berliner Musiker, der sich hinter dem Namen Pole verbirgt, ist die Transzendenz von Gegenwart, Vergangenheit und möglicher Zukunft immer schon ein Grundmotiv seines minimalen Elektronik- und Dub-Sounds. Die Grundlagen breitete er Anfang der Nullerjahre auf seinen ersten »1«, »2« und »3« betitelten Alben aus, seit »Fading«, einer Meditation über Demenz, erweitert er das Spektrum – und landet auf »Tempus« mit viel pointiert gesetzten Perkussionselementen beinahe schon im Jazz. Der fließt allerdings so langsam und körnig dahin wie »Grauer Sand«, so heißt eines der etwas beschwingteren Stücke, das wie eine Zeitlupenversion des gerade angesagten südafrikanischen Amapiano-House-Sounds wirkt. In »Cenote« lullt Betke seine Hörer minutenlang in einen andächtigen Flow mit elektronischen Wassertropfengeräuschen, bis einen nach viereinhalb Minuten eine laute, einzeln angeschlagene Snaredrum aus der gefühlten Zeitvergessenheit reißt wie ein besonders fieser Wecker. Schön und hinterlistig ist auch »Stechmück«, das mit rumorenden Sounds die gemächliche Dub-Ruhe durchreißt wie eben jenes nervtötende Insekt. Das heulende Geräusch darin sei angeblich das letzte Aufbäumen seines sterbenden Moog-Synthesizers, heißt es. Tempus fugit, aber Poles geduldige, doch nie monotone Musik legt den Zeitstrom unters Mikroskop, bis sich Sekunden und Minuten wie Moleküle bestaunen lassen, auf deren Oberflächen sich Epen abspielen. Ein Album, das bleiben wird. (8.5)
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Auch in der weirden Welt von Richard Dawson geht es um die Verschränkung der Zeitläufe ineinander. »The Ruby Cord« ist der Abschluss einer Trilogie, die mit »Peasant« folkversponnen im vormittelalterlichen Britannien begann, sich auf »2020« ungewohnt geradlinig mit gegenwärtigen Dingen wie Jogging oder Work-Life-Balance beschäftigte – und nun also mit gehöriger Fantasy-Verspultheit 500 Jahre in die Zukunft Albions blickt. Und siehe da: Nichts hat sich verändert! Der »Hermit« aus dem ersten Song könnte seine Einsiedelei auch als Hofnarr oder Bänkelsänger auf »Peasant« begonnen haben, nun aber blinzelt er aus seiner Höhle und erblickt prompt einen Roboter, der auf der Straße kniet: »Up ahead I could see what looked to be a robot knelt in the lane, revealed at a higher magnification as a gilt-clad knight of Old submerged at the waist in unyielding concrete, flailing his arms to a windmill of gold«, heißt es im Text, der hier so ausführlich zitiert wird, um einen Eindruck von Sprache und Duktus dieses eklektischen, hochpoetischen Musikromans zu vermitteln. »Hermit« allein ist 41 Minuten lang, wogt auf und ab, hat stille und ergreifende Momente, dann wieder kleine Popsongs und große Refrains, die darin verschachtelt und verklöppelt sind. Man stelle sich vor: Robert Wyatt, Richard Thompson und Nick Saloman von The Bevis Frond, die zusammen mit dem Geist von Syd Barrett viel gutes Gras geraucht haben und ein Album für die Ewigkeit aufnehmen, Science-Folkion sozusagen. Es gibt dann noch weitere sechs Stücke, das kürzeste, das springlebendig krähende »Thicker Than Water«, ist fünfeinhalb Minuten lang, ein Haiku zu Dawsons mäanderndem Langgedicht-Epos. Dawsons These ist, dass wir uns in der Zukunft vor der politischen, ökonomischen und ökologischen Tristesse allesamt in die Fantasiewelten von virtuellen Games, Metaversen oder Schwöri-Plattformen verkrochen haben. Aber selbst der als Folkbarde getarnte Nihilist Dawson findet irgendwo inmitten des kakofonischen Lärms von »The Fool« doch noch zu einem Rest Hoffnung und Liebe für die Menschheit. How? Why? Man wird 500 Jahre in einer dunklen Höhle mit Kopfhörern brauchen, bis man das enträtselt und begriffen hat. Mindestens. Und dann kniet draußen ein Roboter. Far out. (8.0)
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Man kann das Unbehagen an der Welt und den Verhältnissen natürlich auch weitaus knapper und weniger gefühlvoll fassen. Die erstaunliche Punkband Pogendroblem aus Bergisch-Gladbach beziehungsweise Köln macht auf ihrem zweiten Album gerade vor, wie das geht: Kein Song ist länger als zweieinhalb Minuten, einige brauchen nur 90 Sekunden, um mit energischem Dead-Kennedys-Druck kluge Einsichten in den Diskurs zu prügeln: »Womit betäubst du dich«, fragt die DIY-Band mit dem Druffi-Namen, aber gemeint sind nicht die Drogen oder das Pogen, sondern Alltagslügen wie der »International Self Care Day« oder gleichsinnige Wohlfühl-Bubbles, in denen man sich moralisch auf der richtigen Seite wähnen kann, aber da draußen, in der Realpolitik des kalten Neoliberalismus, trotzdem krachend scheitern wird (»Die einfachen Botschaften«). Trotz ihres Misstrauens gegenüber griffigen Lifestyle-Einseifungen durch Politik und große Konzerne haben Pogendroblem, die unschwer im sehr weit linken Spektrum zu verorten sind, dann doch noch ein paar eigene Slogans parat: »System change not climate change«, »Feminismus oder Schlägerei«, »Antifa bleibt Handarbeit« und, klar, »Nie wieder Deutschland«. Ist doch eigentlich alles ganz einfach? Nope: »Du gibst mir das Gefühl, dass richtiges Leben möglich ist«, heißt es in »Das Gefühl« dringlich, dann matter of fact, wie es nur ein guter Post-Punkrock-Song kann: »Es ist falsch.« Außerhalb des Systems sehen sich die Rheinländer, neuerdings mit einer Drummerin, bestens für den genderparitätischen Zeitgeist ausgerüstet, jedoch nicht. »Das Leben ist zu teuer, wo bleibt die Vermögensteuer?«, formulieren Pogendroblem in einem mokant als sozialdemokratisches Lied über Realpolitik bezeichneten Song zu Waldhorngebläse. Ein Schlachtruf für den deutschen Winter 2022. Solche Kompetenzen sind gerade gefragt: Fachkräftemangel gibt’s schließlich auch im Punkgewerbe. (7.7)
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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)
Mittwochs um Mitternacht (0.00 Uhr) gibt es beim Hamburger Webradio ByteFM ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte. Seit 1. Januar 2022 sendet ByteFM in Hamburg auch auf UKW (91,7 und 104,0 MHz).
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